Praxislernen: Motivation für die Berufswahl
„Aufgeben ist das Letzte, was man sich erlauben darf“ – das dachte sich vor mehr als 20 Jahren die Schulleitung der Berufsorientierten Schule (BOS) Kirchmöser in Brandburg an der Havel. Jörg-Peter Gruhn, seit sieben Jahren Schulleiter der BOS, erinnert sich: „Damals ließen die Schülerzahlen vermuten, dass eine Klassenbildung fast ausgeschlossen ist. Um den Untergang abzuwenden, suchten die damalige Schulleiterin Frau Rothe und ihre Kolleginnen mit aller Kraft ein Alleinstellungsmerkmal für ihre Schule und stießen dabei auf den Berufsorientierungstag.“ 2005 war es dann so weit: Der Berufsorientierungstag wurde vom Schulamt genehmigt. Eine Entscheidung, die nicht nur das Überleben der Schule sicherte. Die Berufsorientierte Schule Kirchmöser zählt seitdem zu den Pionieren des mittlerweile landesweit etablierten Praxislernens. Heute hat die Schule mehr als 100 Partnerbetriebe und Kooperationspartner aus Wirtschaft, Jugendeinrichtungen, sozialen Einrichtungen oder dem Handwerk.
Der stellvertretende Schulleiter Sören Stöhr unterrichtet Informatik und WAT in Kirchmöser, er sagt: „Die Schülerinnen und Schüler und ihre Eltern wählen unsere Berufsorientierte Schule bewusst aus Die Eltern sind dazu angehalten, mit ihren Kindern an einem Strang zu ziehen. Alle wissen, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Interessen und Fähigkeiten mindestens einmal pro Woche in einem praxisnahen Umfeld erproben können. Ihnen ist auch die Bedeutung von schulischem Fachwissen im Umgang mit dem Berufsalltag bewusst, was die Lernmotivation und die Bedeutsamkeit geforderter Schulabschlüsse erhöhen. Außerdem werden soziale Kompetenzen wie Teamfähigkeit und das Zurechtfinden in regelmäßig wechselnden Umfeldern gestärkt. Die Berufsorientierung stellt den Schwerpunkt unserer pädagogischen Arbeit dar. Dennoch ist es mir wichtig zu sagen, dass andere Fächer wie Deutsch, Mathematik oder Englisch im vollen Umfang unterrichtet werden.“
Gibt es eine Hitliste der beliebtesten Ausbildungsplätze?
Fachbereichsleiter Mario Freiwald, der Physik und WAT lehrt und seit 2021 an der BOS Kirchmöser unterrichtet: „Zu den beliebtesten Bereichen gehören der soziale Bereich, also Pflege und Kita, das Handwerk, wie Kfz-Mechaniker oder Tischler, und der Einzelhandel. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Wechsel bei den beliebtesten Branchen. 2023 war der soziale Bereich in der Pflege, der Kita und im Krankhaus besonders beliebt. Meiner Meinung nach entwickeln die Schülerinnen und Schüler in der Phase der beruflichen Orientierung in Klasse 7/8 ihre verschiedenen individuellen Interessen und wählen dann ein Berufsfeld aus ihren eigenen Vorstellungen.“ Zudem konnte fast allen Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund ein ganzjähriger Praktikumsplatz vermittelt werden.
Projekt „Fit for Life“
Vor fünf Jahren rief Susanne Assmann, die seit 2018 Geschichte, Deutsch und Politische Bildung an der Schule unterrichtet, das Projekt „Fit for Life“ ins Leben. Seit 2020 ist die WAT- und Mathe-Lehrerin Nadin Altenkirch an ihrer Seite, die auch Fit for Life-Fachkonferenzleiterin ist. Susanne Assmann erläutert: „Das Projekt ‚Fit for Life‘ setzt sich aus Hauswirtschaft/Ernährung sowie aus lebens-/berufsrelevanten Kompetenzen zusammen. In der 7. Klasse wird ein Ausflug ins Altersheim ‚Domizil am Marienberg‘ unternommen, um Zeit mit den Seniorinnen und Senioren zu verbringen und zuzuhören. Auf dem Programm steht außerdem Teambildung im Café Contact, da sich die Kinder nach dem Schulwechsel noch nicht so gut kennen.“ Verantwortung müssen die Schülerinnen und Schüler an drei Terminen übernehmen, wenn es um die Themen Brandschutz und Erste-Hilfe-Maßnahmen geht. Susanne Assmann: „Besonders begeistert sind sie vom Durchführen der Seitenlage, der Reanimation mit dem AED (Defibrillator) und dem Anlegen der Druckverbände. Am Ende erhalten sie ein Zertifikat vom DRK, das ihnen sogar bei der Führerscheinprüfung hilft. In der 8. Jahrgangsstufe liegt der Hauptfokus auf Prävention, sodass die Jugendlichen gesund in das Berufsleben starten können. Auf dem Plan stehen hier unter anderem: Schulstress adé/Entspannungskurs, Glücksunterricht, Knigge-Kurs/Verhaltenskurs oder Suchtprävention.“
Und was sagen die Schülerinnen und Schüler über ihre Schule?
Mara Lotte Giese (12): „An unserem ersten Berufsorientierungstag hatten wir das Thema „Mobbing“. Ich fand das sehr hilfreich, weil es fast allen geholfen hat, zu verstehen, was es bedeutet, gemobbt zu werden und was es für Folgen für die Opfer haben kann. Dass manche sich darüber lustig machten, gefiel mir überhaupt nicht. Cool fand ich den Besuch bei der Feuerwehr. Dort wurde uns gezeigt, wie man Leben rettet, und wir haben einen Test über Brandschutz geschrieben. Später besuchten wir ein Altersheim und spielten mit den Omis und Opis Brettspiele. Alle zeigten uns, wie viel Spaß man noch im Alter haben kann. Die alte Dame Renate fand ich herzallerliebst. Für mich war dieser Besuch der Beste von allen.“
Lenya Verse (15): „Ich mache ein Praktikum im Büro einer Bundestagsabgeordneten. Ich weiß aber nicht, ob ein Beruf in der Politik unbedingt mein Traumberuf wird. Ich habe davor viel mit meinen Eltern gesprochen und mir Rat bei ihnen geholt. Das half mir am Ende, mich für diese Stelle zu entscheiden. Natürlich gibt es manchmal Phasen, in denen ich keine Lust auf das Praktikum habe, aber ich denke, es ist sehr wichtig, eine gute Ausbildung zu haben, da man dadurch viel mehr Mut und Selbstbewusstsein bekommt.“
Alexander Jack (14): „Ich habe mich für ein Praktikum bei dem Sozialen Dienst ‚Future Care’ entschieden, weil mir meine erste Wahl, das Tierheim, eine Absage erteilte. Es ist nicht mein Traumberuf, aber ich will das Praktikum nicht abbrechen, weil es mir sehr viel Spaß macht und weil mich die Senioren und die Mitarbeiter sehr gut aufgenommen haben. Ich habe noch keine Idee, wo mich mein Weg hinführt. Aber ich weiß, wie wichtig es ist eine Ausbildung zu machen, um im Berufsleben vorwärtszukommen.“
Miley Niekisch (14): „Ich wusste schon immer, dass ich einmal Krankenschwester oder sogar Ärztin werden will. Deshalb entschied ich mich für ein Praktikum im Krankenhaus. Ich liebe es, Menschen zu helfen – egal ob klein oder groß. Ich habe auch kein Problem, schwere Verletzungen zu sehen oder Blut. Und weil ich so interessiert bin, überlege ich, ob ich innerhalb des Krankenhauses die Station wechseln kann, um noch mehr zu lernen und einen noch besseren Abschluss zu machen.“
Jetzt sind Sie gefragt:
Haben Sie auch ein Projekt? Gibt es an Ihrer Schule etwas, dass beispielgebend für Kolleginnen und Kollegen ist? Sind sie in einer Sache an Ihrer Schule stark engagiert oder möchten Sie auf das Engagement anderer aufmerksam machen? Dann wenden Sie sich an unsere Autorin Dona Kujacinski: dona@donakujacinski.de. Die Journalistin stellt im Auftrag des MBJS „Projekte und Pioniere“ vor.