Chemie der Kerzenflamme
„Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht.“– Dieses Zitat aus Schillers „Das Lied von der Glocke“ beschreibt das gefährliche und unberechenbare Element Feuer. Aus sich selbst kann es nicht existieren. Um zu vernichten, aber auch um zu wärmen, braucht es Nahrung: Brennstoff, Hitze, Sauerstoff. Feuer – zusammen mit Wasser, Erde und Luft – eine der vier Kraftquellen der Natur fasziniert viele Menschen. Manche wegen der Gefahr, die es mit sich bringen kann, andere, weil es sie wärmt und zum Träumen verleitet, wieder andere aus wissenschaftlichen Gründen.
Zu Letzteren zählt Ralf Geiß, Chemiker aus Leidenschaft, mit einer bemerkenswerten Vita: promovierter Chemiker (Dr. sc. nat. ETH), Gymnasiallehrer für Chemie, Physik, Biologie und Mathematik an Schweizer Gymnasien, Dozent für Chemie und Chemiedidaktik an der pädagogischen Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW), wissenschaftlicher Mitarbeiter im Umweltweltbundesamt (Arbeitsschwerpunkt nachhaltige Chemie), seit 2024 Gymnasiallehrer für Chemie und Biologie am Emil-Fischer-Gymnasium Schwarzheide in der Niederlausitz. Dort führt er mit den 7. Klassen im Chemieunterricht das Projekt „Was ist Feuer?“ durch.
„Die Idee dazu“ schildert Ralf Geiß „entstand während meines Lehrerstudiums und in einer Weiterbildung. Dort wurde ich mit der Didaktik, also der Kunst und der Wissenschaft des Lehrens, des Reformpädagogen Martin Wagenschein konfrontiert. Er hatte ein Unterrichtsprojekt zur Kerze entwickelt, in dem diese eher physikalisch als chemisch behandelt wurde. Das brachte mich auf die Idee, das Unterrichtsprogramm Wagenscheins im chemischen Sinne auszugestalten.“
Im Unterricht des Pädagogen wird die Chemie der Kerzenflamme durch zahlreiche Experimente forschend erkundet. Die didaktischen Merkmale des Projekts sind:
- konstruktivistischer Unterricht
- entdeckendes Lernen
- Nature of Science
- sokratische Gespräche
- exemplarischer Unterricht
- genetischer Unterricht.
„Der Pioniercharakter des Projekts“ so Ralf Geiß „besteht im Wesentlichen darin, dass der Unterricht sozialkonstruktivistisch geprägt ist. Anders als bei behavioristisch oder kognitivistisch orientiertem Unterricht, werden hier die fachlichen und methodischen Inhalte nicht vermittelt, sondern zugänglich gemacht. Mit anderen Worten: Lernende erhalten die Gelegenheit, Wissen und Kompetenzen selbsttätig zu konstruieren beziehungsweise zu erschaffen.“ Wie begeistern Sie Ihre Schüler für das Projekt? Ralf Geiß: „Durch die sokratische Gesprächsführung nach Leonhard Nelson und faszinierende Experimente. Am besten kommen bei den Schülerinnen und Schülern spektakuläre Experimente wie Wasserstoffverbrennung und Knallgasexplosionen sowie die Wachsverbrennung nach Wasserzugabe an.“
Chemische Reaktionen in Verbindung mit Feuer sind für viele Menschen magische Vorgänge. Wie wirkt sich diese Magie auf die Schülerinnen und Schüler aus? Ralf Geiß: „In ‚Was ist Feuer?’ geht es ja gerade darum, die Magie der chemischen Vorgänge offen zu legen. Allerdings werden dafür noch keine Erklärungen geliefert. Diese folgen Schritt für Schritt in den nächsten Projekten. Und es geht für die Lernenden auch darum zu erkennen, dass Chemie vor allem die Wissenschaft ist, welche nach Erklärungen für die magischen chemischen Reaktionen sucht. Deshalb sollen sie zunächst eigene Fragen stellen, bevor sie mit den Antworten konfrontiert werden. Warum? Selbst die einfachste Erklärung zur Stoffumwandlung chemischer Reaktionen ist für die Schülerinnen und Schüler der 7. Klassen sehr abstrakt. Deshalb macht es Sinn, ihnen die Erklärungen hierfür sehr behutsam beizubringen, anstatt sie mit Theorien zu überschütten, die sie nicht verstehen können. Die Menschheit hat viele Jahrhunderte benötigt, die einfachste noch fehlerhafte Erklärung zu finden. Deshalb kann man das auch nicht in fünf Minuten verarbeiten.“
Wie nimmt er den Schülerinnen und Schülern die Angst vor dem Feuer? Ralf Geiß: „Ich möchte ihnen nicht gänzlich die Angst davor nehmen. Ich unterstütze sie dabei, zu verstehen, was Feuer ist. Denn nur, wenn man es versteht, hat man nur dann Angst, wenn sie auch gerechtfertigt ist.“ Wie reagieren die Eltern auf Ihre Form des Unterrichts? „Unterschiedlich, da es nicht viele Erwachsene gibt, die ohne Erklärung den Sinn von konstruktivistischem Unterricht verstehen, was meines Erachtens am modernen Charakter der Unterrichtssequenz liegt. Ich habe kritische und positive Stimmen gehört. Eine Mutter sagte zu mir: ‚Mit diesem Projekt habe ich zum ersten Mal etwas aus dem Schul-Chemie-Unterricht verstanden’.“
Stellt sich noch die Frage, welche Faszination das Feuer auf Ralf Geiß persönlich ausübt, der 2017 das Projekt „Was ist Feuer?“ in seinem Buch „Chemie entdecken und verstehen“ publizierte. „Mit der Frage ‚Was ist Feuer?’ ist die moderne Chemie entstanden. In den Anfängen jeder Wissenschaft kann man relativ einfach erkennen, auf welchen Grundmustern eine Wissenschaft basiert, wobei Feuer sehr viele Aspekte hat, die deutlich machen, dass der chemische Aspekt nicht allein beschreiben kann, was Feuer ist. Durch die Auseinandersetzung mit dem Thema Feuer kann jedoch deutlich werden, was Naturwissenschaften leisten können und was nicht und dass die Naturwissenschaft Chemie das Ergebnis eines historischen Entwicklungsprozesses ist und nicht eine objektive Wahrheit darstellt. Feuer ist ein Naturphänomen und hat somit eine ganz andere Qualität als viele andere chemische Themen, die oft technischer oder laborwissenschaftlicher Art sind. Feuer ist eines der antiken Elemente (Feuer, Wasser, Erde, Luft). Durch die Auseinandersetzung mit Feuer wird deutlich, dass die modernen Elemente etwas ganz anderes sind als die antiken Elemente.“
Sind weitere konstruktivitische Chemie-Unterrichtsprojekte für das Emil-Fischer-Gymnasium in Planung? Ralf Geiß: „Selbstverständlich.“
Jetzt sind Sie gefragt:
Haben Sie auch ein Projekt? Gibt es an Ihrer Schule etwas, dass beispielgebend für Kolleginnen und Kollegen ist? Sind sie in einer Sache an Ihrer Schule stark engagiert oder möchten Sie auf das Engagement anderer aufmerksam machen? Dann wenden Sie sich an unsere Autorin Dona Kujacinski: dona@donakujacinski.de. Die Journalistin stellt im Auftrag des MBJS „Projekte und Pioniere“ vor.